Die Liebe zum Leben

Leben? oder Theater

© Jens Nerkamp

Menschen haben Lebenskrisen. Manche kleinere, andere bedrohliche. Allzu oft resultiert daraus ein Suizid oder eine andere Tat, die nur passiert, weil das Opfer keinen anderen Ausweg sieht und sich dadurch in die Täterrolle begibt.

Charlotte Salomon, die 1939 nach Südfrankreich zu ihren Großeltern emigrierte, erfuhr erst als ihre Großmutter einen Selbstmord versuchte, dass es das Schicksal der Frauen ihrer Familie zu sein schien, sich von dieser Welt durch die eigene Hand zu verabschieden. Ihre Tante tötete sich selbst und auch ihre eigene Mutter wählte den Freitod.

Malen als Eigentherapie

Charlotte Salomon wollte das nicht. Sie wollte die Geschichte der Frauen ihrer Familie nicht fortführen. Sie suchte sich einen Weg, den Wahnsinn zu verarbeiten, der ihr ganzes Leben bestimmte.  Dazu begann sie in der Zeit um 1941/42 zu malen. Sie schuf 1325 Gouachen und verwendete dazu einzig Primärfarben. Aus dieser großen Sammlung wählte sie 769 Stücke aus und fügte sie zu einem Werk zusammen, das ihr eigenes Leben widerspiegelt. Charlotte ergänzte ihr Werk durch Texte und unterlegte es mit Musik. Das Werk ihres Lebens bekam den Namen „Leben? oder Theater? – Ein Singspiel.”

Vom Leben gezeichnet

Es ist in Vorspiel, Hauptteil und Epilog aufgeteilt. Mit dem Selbstmord ihrer Tante Charlotte wird die Handlung eingeleitet. Die Aspekte des Hauptteils beschäftigen sich vorwiegend mit den traumatischen Erlebnissen, den Ansichten des Gesangslehrers ihrer Stiefmutter und der künstlerischen Entfaltung unter dem Regime der Nationalsozialisten. Je weiter die Handlung führt, desto mehr fällt einem die Veränderung des Stils auf. Er wird roher. Die Bilder sind nicht mehr klar, werden sogar schrittweise abstrakter. Damit erreicht die Geschichte ihren dritten Teil. Dieser beschreibt die letzten Jahre in Charlotte Salomons Leben, bevor sie nach Auschwitz deportiert wird.
Dieser Teil ist aus dem Leben jüdischer Frauen, die den Aufstieg des Faschismus, Zwangsemigration und sexuellen Missbrauch erleben müssen. Und vor allem handelt der dritte Teil von der Frage, die sich viele Menschen zu dieser Zeit stellen müssen: „Leben oder sterben?“
Das Werk, in seiner umfangreichen Fassung, erweckt das Interesse vieler, da es politische Geschichte beschreibt, private Eindrücke verarbeitet und die Erlebnisse der Frauen aufgreift.

Moderne Kunst in der dunkelsten Zeit Deutschlands

Die dOCUMENTA (13) zeigt im Fridericianum eine Auswahl von Charlotte Salomons Lebenswerk  „Leben? oder Theater?”. Die einzelnen Gouachen und Textelemente sind aufeinander folgend in Vitrinen ausgestellt. Leider fehlt die Musik, die das ganze untermalen soll. Aber auch ohne Musik haben die Bilder eine gewisse Wirkung, wenn man sie betrachtet. Da es nur eine Auswahl des gesamten Werkes ist, merkt man gravierende Schnitte im Stil, die aber eine deutliche Wirkung erzielen: die Veränderung der Zeitgeschichte wird deutlich dargestellt.
Neben der politischen und privaten Geschichte die das Singspiel trägt ist „Leben? oder Theater?“ auch ein Zeugnis für die moderne Kunst um 1940, die eben wegen der schrecklichen Geschehnisse im dunklen Zeitalter der deutschen Historie oftmals in den Hintergrund gedrängt wird.

Charlotte Salomon hat es geschafft, ihre traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten und verhinderte dadurch, dass sie selbst zum Opfer ihrer Psyche wurde, die drohte sie zu überwältigen. Sie hatte den Mut, sich ihrer Geschichte zu stellen und hat ihr Vorhaben, etwas völlig „wildes und exzentrisches“ auf Papier zu verewigen, innerhalb kürzester Zeit verwirklicht.

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Am Ende musste sie dennoch sterben, wegen den Vernichtungsfantasien eines Wahnsinnigen und dessen Regimes. 1943 wurde sie nach Auschwitz deportiert und umgebracht. Mit ihr musste ein ungeborenes Kind sterben, denn Charlotte war im fünften Monat schwanger.
Lässt man das persönliche Ende von Charlotte Salomon außen vor, passt auch dieses Kunstwerk in die Leitthematik der dOCUMENTA (13), weil ihr Leben  durch die traumatischen Erlebnisse zu kippen drohte. Sie näherte sich ihrem eigenen psychischen Abgrund, der auch in einem Suizid resultieren konnte. Aber sie fing an ihre Gedanken und Erinnerungen zu sammeln, sie aufzumalen und gegen die Zerstörung ihres Lebens anzukämpfen und eine neue Lebensfreude aufzubauen.