Ein Kunstwerk wirkt wie ein Paradiesvogel im verwirrenden dOCUMENTA (13)-Dschungel: Bunt, außergewöhnlich und vielfältig – das Werk regt zum Denken an.
Es ertönt eine männliche Stimme in der Karlsaue. Sie wird lauter, dann leiser, die Sprache wird schneller, bis sie für einige Minuten komplett verstummt. Neugierde führt mich zu dem Werk mit der Ausstellungsnummer 157. Ich bahne mir einen Weg durch die Menschenmenge, die sich um eine kunterbunte Baum-Installation versammelt hat und fasziniert das Treiben beobachtet. Was passiert da? Wer spricht? Ich sehe einen dunkelhäutigen Mann, der einen farbenreichen Mantel trägt und wild agiert.
Allroundkünstler Issa Samb in Aktion
© Livia Blum
Ein Mann mit vielen Gesichtern
Wie ich bemerke, bin ich am 08.06.2012, in der Eröffnungswoche der dOCUMENTA (13), mitten in eine spontane Performance des senegalischen Künstlers Issa Samb (* 1945) geplatzt. Der Maler, Bildhauer, Schauspieler, Philosoph, Performancekünstler, Schriftsteller und Kritiker zeigt während seiner Performance wechselnde Gefühlszustände. Mal lächelt er freundlich, verweilt ruhig vor seiner Installation, verschränkt die Hände hinter dem Rücken und spricht gediegen. Plötzlich verstummt seine Stimme. Er bewegt sich nicht, er schaut das Publikum nur auffordernd an. Stille. Im nächsten Moment gestikuliert er euphorisch, seine Stimme wird lärmend und herrischer – laut und geräuschvoll. Sein Gesicht verzieht sich angespannt.
Issa Samb vor seiner Installation „La balance déséquilibrée (Out of balance)“
© Livia Blum
Die Gedanken fahren Karussell
Schaut man in die Runde, so erkennt man in den fragenden Gesichtern vieler Zuschauer, dass sie seine Handlungen nicht einordnen können – so wie sich seine Installation jeder Einordnung zu entziehen scheint. Verwirrung. Aber dies scheint die Menschenmassen förmlich anzuziehen. Er zieht die Menschen in seinen Bann, auch wenn die meisten wohl nicht verstehen, was er sagt. Er spricht in französischer Sprache. Als ich ihn fotografiere, schaut er mich verwirrt an, was ich nicht verstehe.
Ein Gegner der Technologie? Kaum vorstellbar…
Erst, nachdem ich mich ausführlich über ihn informierte, wurde mir klar: Der extrovertierte Mann hat eine Abneigung gegen sämtliche Technologie. Der Gesamtkünstler, der Gedichte, Essays und Romane schreibt, hat sich mit dem Gebiet der Fotografie noch nie beschäftigt. Er verwendet auch keine modernen, technischen Geräte – außer einem Radio – weil diese seiner Meinung nach die zwischenmenschliche Beziehung zerstören würden. Außerdem möchte er nicht ständig auf der Suche nach Anerkennung oder der Anhäufung von Reichtümern sein. Um sich aber an sein Werk „La balance déséquilibrée (Out of balance)“, dt. „Die unausgeglichene Waage (Aus dem Gleichgewicht)“, annähern zu können, sollte man sich zunächst mit dem Menschen Issa Samb beschäftigen. Welche Weltauffassung hat er? Was hat ihn geprägt?
Samb, der Kritiker
Issa Samb studierte in den 60iger Jahren in Dakar, der Hauptstadt Senegals, Kunst und Philosophie. 1974 gründete er mit verschiedenen Künstlern das Laboratoire Agit-Art. Es handelte sich um eine Künstlergruppe, die sich mit zeitgenössischer afrikanischer Kunst beschäftigte. Sie stellte eine Gegenbewegung zu der Kulturpolitik des senegalischen Dichters und Präsidenten Léopold Sédar Senghor (1906-2001) dar, unter dem Kunst und Politik staatlich geleitet waren. Diese Schranken durchbrach die Künstlergruppe mit Installationen und Performances. Kunst sollte von nun an kreativ, sozial, ästhetisch und politisch sein. Sie riefen afrikanische Bürger zur aktiven Mitarbeit auf. Die meisten Mitglieder der Gruppe sind mittlerweile verstorben. Mit Issa Samb wird der Geist der Gruppe jedoch nach Kassel getragen. Wer zu ihm mehr erfahren möchte, dem ist „Das Begleitbuch“ sowie „Das Buch der Bücher“ sehr zu empfehlen.
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Menschlichkeit und Toleranz als höchste Tugenden
Alte Bücher, Kreuze, eine Feuerstelle, eine Skulptur, bunte Stoffe und Püppchen am Baum hängend – was bedeutet das? Samb, ein Vertreter des Humanismus, möchte mit seiner Installation für Toleranz appellieren. Er selbst bezeichnet die „kulturelle und religiöse Intoleranz“ als eine „Krankheit unserer Zeit“, die geheilt werden müsse. Dies versucht er u.a. durch das riesige, weiße Kreuz zu erreichen, das an einem Baum lehnt. Er teilt ihm die Aufgabe eines Vermittlers zu: Durch das eingewickelte Kreuz sollen wir Menschen unsere Menschlichkeit und Weisheit wieder finden. Auch sollen wir lernen, Menschen, die anders als wir selbst sind – sei es deren Religion oder Lebensauffassung – zu akzeptieren. Viele weitere Kreuze überbringen diese Botschaft. Schaffen wir es nicht, das Anderssein unserer Mitmenschen zu akzeptieren, so gäbe es Kriege.
An dieser Stelle wird Sambs Weltanschauung deutlich, der nach Disziplinen wie Gewaltfreiheit, Gewissensfreiheit und Toleranz lebt und dem Charaktereigenschaften wie Freundlichkeit, Mitgefühl und Hilfsbereitschaft besonders wichtig sind. Es ist anzunehmen, dass Issa Samb mit der Feuerstelle, den alten Büchern und den Püppchen eine Verbindung zwischen der afrikanischen Tradition und den Menschen im 21. Jahrhundert schaffen möchte.
(lb)